Eine kurze Geschichte der KI-Literatur
2018 schrieb sich ein Cadillac in die Literaturgeschichte ein: Das Zeitalter schreibender Menschen schien vorbei zu sein, fortan brauchte es keine Autor:innen mehr, die mühsam einen Roman zusammenschreiben, sondern lediglich ein Auto, das auf dem Weg von New York nach New Orleans literarische Texte im Akkord im Kofferraum ausdruckt. Hinter dem öffentlichkeitswirksamen Projekt, das von Google gesponsert wurde, verbirgt sich der Medienkünstler und Programmierer Ross Goodwin. Goodwin trainierte ein künstliches neuronales Netzwerk (KNN) mit einem Textdatensatz, um es mit einer Überwachungskamera und einem Drucker zu verknüpfen und schließlich im Kofferraum eines Cadillacs zu verstauen. Es handelt sich demnach weniger um ein schreibendes Auto als um ein künstliches neuronales Netzwerk, das Text generiert. 1 the Road (2018) ist als experimentelle Hommage an US-amerikanische Roadnovels zu verstehen.
1 the Road wird oftmals als “erster” KI-Roman kanonisiert. Erzählt wird keine lineare Geschichte, stattdessen ist der Text als Logbuch verfasst - man sucht vergeblich nach einem größeren Sinnzusammenhang in vereinzelten Beobachtungen zu Wolkenformationen oder Linien auf Asphalt. Trotz des experimentellen Sprachgebrauchs ist 1 the Road ein Meilenstein in der künstlichen Genese erzählerischer Texte, der Literaturwissenschaftler Debarshi Arathdar sieht diesen insbesondere darin, dass 1 the Road Kohärenz auf Satzebene aufweise [1]. Dem künstlerischen Projekt gehen langjährige Versuche in der computergestützten Linguistik voraus, die sich seit Beginn der KI-Forschung zum Ziel gesetzt hat, Maschinen zu entwickeln, die (kohärente) Geschichten erzählen können [2]. 1 the Road ist folglich nicht der erste KI-generierte Roman der Literaturgeschichte, zweifelsohne aber die erste öffentlichkeitswirksame KI-Publikation, die internationale Aufmerksamkeit erhielt und auf dem Buchmarkt wahrgenommen wurde.
Voraussetzung für Projekte wie 1 the Road sind technologische Entwicklungen in den 2010er Jahren, die den Einsatz von künstlichen neuronalen Netzwerken in der Textgenese ermöglichen. Die Geschichte KI-generierter Literatur ist entsprechend jung. Vorstöße in Richtung KI-Lyrik unternahm 2016 Google in Kooperation mit der Universität Stanford. In einem gemeinsamen Forschungsprojekt wurde ein rekurrentes Sprachmodell mit 11.000 Romanen trainiert, um anschließend Gedichte zu generieren. 2017 publizierte ein chinesischer Verlag den vermeintlich ersten KI-Gedichtband, generiert über das Programm Microsoft Little Ice (Xiaoice). Im Filmbereich wird Sunspring (2016) ebenfalls von Ross Goodwin, als erstes, von einer Künstlichen Intelligenz geschriebenes Drehbuch verhandelt. Digitale Literat:innen wie Nick Montfort oder Allison Parrish verwenden ebenfalls konnektionistische Verfahren zur Literaturgenese, im deutschsprachigen Raum etabliert sich das Kollektiv 0x0a, bestehend aus Hannes Bajohr und Gregor Weichbrodt, die mit Projekten wie Poetisch denken (2020) Autor:innenschaft im Zeitalter von KI hinterfragen. Das Phänomen “KI-Literatur” ist in den 2010er-Jahren jedoch kein Mainstream-Thema. Schreibende KI findet keinen Einsatz in der konventionellen Literaturproduktion, die Textqualität von Sprachmodellen ist kaum mit dem gegenwärtigen Stand zu vergleichen und scheint wenig interessant für Feuilleton oder Publikumsverlage.
Dies ändert sich mit ChatGPT: OpenAI löst durch die Veröffentlichung des Sprachmodells im November 2022 einen KI-Hype aus. Der Chatbot stellt die kollektive Vorstellung von Schreiben, Textproduktion, aber auch Kommunikation auf den Kopf. Sprachmodelle versprechen hyperproduktives Schreiben für alle, dies betrifft auch das Schreiben von Literatur. 2023 wird von einer kaum kontrollierbaren Flut von KI-Texten im Internet gesprochen, darunter auch KI-Bücher, die insbesondere den Online-Versandhändler Amazon betreffen [3]. In YouTube-Tutorials wird die Produktion eines Buchs in Zusammenarbeit mit ChatGPT auf wenige Stunden reduziert. KI-gestützte Schreibprogramme sollen Workflows beschleunigen. Darunter auch Fiction-Writing-Programme, die versprechen, Bücher schnell und effizient zu erstellen und diese auf dem Literaturmarkt zu veröffentlichen. Laut der Beratungs- und Forschungsagentur Verified Market Research beläuft sich der Wert des US-amerikanischen Markts für KI-Schreib-Software im Jahr 2021 auf 818,48 Millionen US-Dollar. Es wird prognostiziert, dass er bis zum Jahr 2030 auf einen Wert von 6.464,31 Millionen, und damit um fast 27 Prozent ansteigt [4].
Bevor KI-Literatur im Zuge des Hypes um ChatGPT weltweit Aufmerksamkeit erhielt, wurden literarische Texte, die mithilfe von Algorithmen und Netzwerken entstanden sind, im Zusammenhang mit Ansätzen aus der Konzeptkunst und der generativen Literatur rezipiert. Die Arbeiten digitaler Literat:innen wie Nick Montfort, Allison Parrish oder Hannes Bajohr werden auch anhand der Begriffe Computational, Electronic oder Digital Literature diskutiert [5]. Jene literarische Tradition lässt sich von Verfahren abgrenzen, die keine selbstreflexiven oder konzeptuellen Zugriffe auf ihre Entstehungsweise (mit KI) beinhalten, sondern ein Endprodukt (einen literarischen Text) anvisieren. Damit gemeint sind literarische Texte, die genauso gut ohne KI hätten geschrieben werden können. So will beispielsweise das mit ChatGPT generierte Kinderbuch Bedtime Stories von Kamil Banc weder durch Glitches auf Fehlleistungen des Systems hinweisen, noch ist die Entstehung (mit oder ohne KI) relevant für den Rezeptionsprozess. KI erscheint lediglich als ein Werkzeug zur Effizienssteigerung oder Kreativitätsimpuls.
Aktuell werden vor allem Ratgeber, Sachbücher, Kinderbücher, Pulp Fiction und als Genreliteratur kategorisierte Texte [6] mithilfe von KI generiert. Die Texte treten insbesondere über Kindle Direct Publishing auf den literarischen Markt. Auch wenn sich KI-Content, vor allem im Internet, stetig vermehrt, ist KI-Literatur im deutschsprachigen Bereich bislang kein Massenphänomen. Ein Blick auf den südkoreanischen Markt zeigt, dass es Länder gibt, in denen KI im Unterhaltungssektor bereits großflächiger eingesetzt wird [7]. Auch wenn KI gegenwärtig höhere Anschlussfähigkeit im Schreiben bestimmter Genres aufweist, werden große Sprachmodelle auch zunehmend in der Genese autorisierter Literatur integriert. Beispielsweise erhielt die Novelle Death of an Author von Aidan Marchine (2023) Aufmerksamkeit von der New York Times [8]. Rie Kudan wurde 2024 für ihren Roman Tokyo-to Dojo-to mit dem Akutagawa-Preis ausgezeichnet [9]. Die mediale Debatte um Kudan, die auf der Dankesrede offenbarte, dass sie Teile ihres Romans mithilfe von ChatGPT geschrieben hat, zeigt, wie aufgeladen der Diskurs um schreibende KI aktuell ist: Kudan berichtet, dass sie negatives Feedback von internationalen Medien erhalten habe [10].
Neben ungeklärten Urheberrechtsfragen sind es vor allem Forderungen nach einem ethischen Umgang mit KI, im literarischen Bereich meint dies: eine kenntliche Distinktion von KI- und nicht-KI-generierten Texten. Hinterfragt werden ebenso Erzählintentionen und die grundsätzliche Relevanz von KI-Texten, die uns vermeintlich nichts über uns selbst erzählen können. Große Sprachmodelle produzieren aktuell, lässt man diese weitgehend automatisiert arbeiten, Erzählungen, die konventionellen Plots folgen, sie reproduzieren Stereotype und erzählen auf schematische Weise. Jene Tendenzen werden durch Fiction-Writing-Programme verstärkt, die konventionelle Erzählstrukturen (wie z. B. die Heldenreise) und handlungsbasierte Literatur priorisieren. Es stellt sich die Frage, welchen Einfluss jene Erzählweisen, die sich immer weiter einem Markt anzupassen scheinen, auf das literarische Feld ausüben werden. Anstatt Literaturgenese und Kunstproduktion gänzlich zu automatisieren, unterstreichen Künstler:innen und Autor:innen immer wieder, dass die produktivste Nutzungsweise von KI in künstlerischen und literarischen Arbeitsprozessen in der Kollaboration liegt. Menschliche Kreativität soll dabei weiter im Mittelpunkt stehen. Die Musikerin Holly Herndon twitter 2019: “the ideal of technology and automation should allow us to be more human and more expressive together, not replace us all together” [11].
Einzelnachweise
1 Debarshi Arathdar: Literature, Narrativity and Composition in the age of Artificial Intelligence. In: TRANS 27 (2021). http://journals.openedition.org/trans/6804. S. 7.
2 Die Monografie Story Machines von Mike Sharples und Rafael Pérez y Pérez gibt z. B. einen Überblick über schreibende Maschinen und die Entwicklung hin zu künstlichen neuronalen Netzwerken in erzählerischen Prozessen. Vgl.: Mike Sharples u. Rafael Pérez y Pérez: Story Machines – How Computers Have Become Creative Writers. London [u.a.]: Routledge 2022.
3 Cuthbertson, Anthony: Hundreds of AI-written books flood Amazon. www.independent.co.uk/tech/ai-author-books-amazon-chatgpt-b2287111.html (05.05.2024).
4 Verified Market Research: AI Writing Assistant Software Market Size And Forecast. https://www.verifiedmarketresearch.com/product/ai-writing-assistant-software-market/ (12.05.24).
5 Scott Rettberg: Electronic Literature. Cambridge: Polity Press 2019; Katherine Hayles: Electronic Literature: New Horizons for the Literary. Notre Dame: University of Notre Dame Press 2009; Hannes Bajohr u. Annette Gilbert (Hg.): Digitale Literatur II. In: Text+Kritik. Zeitschrift für Literatur (2021).
6 Genreliteratur bezieht sich auf Romane, die z. B. als „Romance“ oder „Fantasy“ gelabelt werden. Genreliteratur wird auch unter dem Begriff populäre Literatur subsumiert. Der Kulturwissenschaftler Holt N. Parker definiert populäre Kunst als nicht-autorisierte Kunst und grenzt diese von autorisierter Kunst ab (vgl. Holt N. Parker: Toward a Definition of Popular Culture. In: History and Theory, 50.2 (2011). S. 147-170). Unter autorisierter Literatur lassen sich anhand jener Definition Texte eingrenzen, die als „zeitgenössische Belletristik“ betitelt werden oder von Feuilleton oder Literaturinstitutionen Aufmerksamkeit erhalten. Kategorien wie „Genre“ oder „Nicht-Genre“ bzw. „U“ oder „E“-Literatur werden immer diskursiv und anhand von Zuschreibungen konstruiert.
7 Kim Jaewon: AI technology finds its way into South Korean comics, dramas. https://asia.nikkei.com/Business/Media-Entertainment/AI-technology-finds-its-way-into-South-Korean-comics-dramas (05.05.24).
8 Novelle Death of an Author von Aidan Marchine (2023) Aufmerksamkeit von der New York Times [8].
9 Christiane Lutz: „Ich habe ChatGPT um Rat gefragt“. In: Süddeutsche Zeitung. 06.02.2024. S. 11.
10 Ebenda, S. 11.
11 Holly Herndon: Twitter Post. 26 Nov 5:31 PM 2019. Der Post ist nicht mehr abrufbar.
Autor:innen
Text: Jenifer Becker
Lektorat: Jonas Galm, Ariane Siebel
Zitation: Jenifer Becker: Eine kurze Geschichte der KI-Literatur. In: AI-Labkit (2024) https://ai-labkit.de/lernen/?post=eine-kurze-geschichte-der-ki-literatur