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Hier findest du Einführungsmaterial zum literarischen Schreiben mit KI. Die Artikel geben einen theoretischen Überblick über verschiedene Themenfelder und führen an Fragestellungen und Kontexte heran.

Was ist Lyrik?

Die Einteilung literarischer Texte in die Gattungen Prosa, Lyrik und Drama hat sich als literaturwissenschaftliche Kategorisierung auch in den meisten nicht-akademischen Bereichen durchgesetzt. Sie ist nicht zufällig entstanden, sondern Ergebnis einer langjährigen wissenschaftlichen Auseinandersetzung, ein Versuch, Textformen unterscheid- und beschreibbar zu machen. Welche  Kriterien gelten im vorliegenden Fall, also für lyrische Texte?

Zunächst: Die Unterscheidung zwischen Gegenwartslyrik (etwa ab 1945 oder 1990, je nach Definition aber auch schon ab Einbruch der Neuzeit um 1500) und ihren Vorläufern, ihre Interpretation und historische Einordnung füllt Bücher, Abschlussarbeiten, und mehr oder weniger öffentliche Diskursräume. Die Glanzzeit der Lyrik scheint bereits in der Vergangenheit zu liegen, falls es sie denn einmal gab: wahlweise galt sie vielen als zu empfindsam, verkopft, zeitintensiv oder auch: zu unpolitisch (wahrscheinlich ein Missverständnis) [1], um uns im postmodernen Alltag noch etwas Wesentliches mitzuteilen. Gleichzeitig drängen in den vergangenen Jahren vermehrt politische Lyriker:innen auf öffentliche Bühnen, äußern sich zum Artensterben und zum Klimawandel oder zu politischen und gesellschaftlichen Krisen. Öffentliche Schreibwettbewerbe wie lyrix ziehen zuverlässig junge Menschen an, es scheint: die Lyrik ist tot, lang lebe die Lyrik.

Der Kieler Literaturwissenschaftler Albert Meier unterscheidet die lyrische Form von der alltäglichen Normalsprache und rät, bei der Analyse von Gedichten auf „die Beobachtung von Unwahrscheinlichkeiten“ [2] zu achten. Gemeint sind damit sprachliche Formationen, die in der Alltagssprache so nicht auftauchen. Zum Beispiel durch Vers- oder Reimform, durch Metren oder ein ungewöhnliches, etwa stark neologistisches Vokabular, eine allegorische Rhetorik oder auffällige Klanggleichheiten, die beispielsweise durch Wortwiederholung entstehen.

Aber auch eine inhaltliche Entfernung von einer (scheinbar) wirklichkeitsnahen Kohärenz, von realistischer Bemühung, die einer subjektiv-mikroskopischen Welt eigener Gesetze weicht (möglicherweise bei gleichzeitiger Formstrenge), kann heute ein Indiz dafür sein, dass wir es mit einem lyrischen Text zu tun haben [3]. Die moderne Lyrik experimentiert mit Sprache und bricht auf alle erdenklichen Weisen mit Gewohnheiten und Traditionen (manche sagen, dadurch bleibe sie überhaupt erst erhalten). In den Anfängen kommt sie aber von einer formalen Strenge, die sich etymologisch zurückverfolgen lässt: lyra, altgriechisch: harfenartiges Zupfinstrument, weist auf die musikalischen, liedhaften Qualitäten der Gattung hin – allerdings verwendeten die frühen Griechen das Wort nicht, wenn sie poetische Texte meinten und sprachen vielmehr vom mélos, also dem Lied [4]. Musikalisch meint, vor dem Hintergrund europäisch gewachsener Kulturvorstellungen, einerseits einen gewissen Wohlklang, andererseits eine Strukturstrenge, von der zunächst keine gänzlich ungeregelten Abweichungen möglich sind. Ein Teil des Gedichts gehört also dem Bereich der Phonetik an: klangliche Ähnlichkeiten (wie Schluss und Schloss) und Homophonien (etwa Gin und Dschinn), auch interlingual (etwa false friends wie become und bekommen oder true friends wie mein und mine),  Homogramme (umfahren und umfahren, modern und modern, Hochzeit und Hochzeit), Lautmalerei (rums, peng,  blubb, flutsch), der Gleichklang von Silben (darunter Reime), ähnliche oder sich diametral „widersprechende“ Laute, kurz: bewusste klangliche Varianz oder Kongruenz. Auch Andeutung oder Auslassung kann Teil lyrischer Textarbeit sein, noch bevor die semantische Textebene überhaupt zur Sprache kommt.

Die Literaturwissenschaft unterscheidet zur Interpretation von lyrischen Texten traditionell zwischen Metren, also dem Takt der Gedichte: Jambus, Trochäus, Anapäst und Daktylus. Diese Betonungsschemata haben sich in Deutschland 1624 mit Martin Opitz etabliert [4], in ihnen lernen wir heute retrospektiv Shakespeare, Fontane, Baudelaire, Rilke und gegebenenfalls auch noch Ben Lerner und Kae Tempest zu lesen.

Die Taktbezeichnungen lassen sich erlernen, zu zählen sind die betonten (b) und unbetonten (u) Silben, im Schema: Jambus = ub (Kamél), Trochäus = bu (Kátze), Anapäst = uub (Elefánt), Daktylus = buu (Éidechse). Das ergibt für die erste Zeile der Odyssee von Homer, ein Hexameter in sechs Daktylen, also „Eidechsen“:

Andra moi ennepe, Mousa, | polytropon, hos mala polla 
(Homer, wahrscheinlich niedergeschrieben um 700 v. Chr.)

dt.: Sage mir, Muse, die Thaten | des vielgewanderten Mannes,
(Johann Heinrich Voß, 1781)

Oder Klopstocks Messias (1749): 
Sing, unsterbliche Seele, der sündigen Menschen Erlösung.

Die metrische Unterteilung spielt auch beim klassischen Drama, etwa den in Versform verfassten Dramen von Lessing, Goethe oder Schiller, eine bedeutende Rolle. Literaturwissenschaftler:innen unterscheiden weiter zwischen antiken und deutschen Hexametern, Distichen, englischen und kontinentaleuropäischen Sonetten usw. [5] – an dieser Stelle soll eine rudimentär-begriffliche Einführung in die Verslehre aber genügen.

Seit den griechischen und lateinischen, oft zu Musik vorgetragenen Oden der Antike oder dem mittelalterlichen Minnesang hat die Lyrik schier unzählige Entwicklungsschritte durchgemacht und gleicht heute einem Gebäudekomplex, das ruinenhafte Heiligtümer und Science-Fiction-Fantasien, Charakteristika des archaischen Landlebens und moderner Metropolen in sich vereint: also ein schwer überschaubares Gelände. Die „traditionelle“ Lyrik hat sich rar gemacht, ist aber auch schwerer zu definieren geworden: wie weit zurück kann eine kanonische Definition reichen? Ist ein Gedicht, das Bertolt Brecht oder Mascha Kaléko nacheifert, immer noch modern oder schon altbacken? Ähnliche Fragen stellen sich im Bereich der komponierten Musik, die nach 1945 mit Zwölftontechnik und Serieller Musik, John Cages 4’33 oder der Minimal Music von Philip Glass ihre traditionellen Gewänder (also Harmonielehre und Formvorgaben) weitgehend abgeschüttelt hat. Heute ist es kein einfaches, voraussetzungsarmes Unterfangen mehr, ein zeitgenössisch relevantes Gedicht zu schreiben: irreversible theoretische Entwicklungen und historische Praktiken wirken sich unweigerlich auf gegenwärtige und folgenden Kulturprodukte und ihre Erzeuger:innen aus. Das 20. genau wie das 21. Jahrhundert hat mit dem Anbruch der Moderne, dem Zweiten Weltkrieg und später den Herausforderungen des Anthropozäns und des ressourcenzerstörerischen Kapitalismus’ Unmengen lyrischer Ansätze produziert, die quantitativ vielleicht allein von ihren diversen Beobachtungsversuchen übertroffen werden [6].

Es beschäftigte nahezu den gesamten deutschsprachigen Raum, als Adorno kurz nach Gründung der Bundesrepublik befand, es sei nach Auschwitz schlechthin barbarisch, ein Gedicht zu schreiben [7]. Das Gedicht ringt um die und mit der Sprache, und nach den in deutscher Sprache ergangenen Vernichtungsbefehlen (und -euphemismen) des Dritten Reiches war es denen, die die Gedichte schrieben, unmöglich geworden, nicht auch mit den Gedichten selbst zu ringen: war die (deutsche) Sprache in den Konzentrationslagern der Nazis zerstört worden? Ließ sich ein sinnvoller Zusammenhang zwischen Klang und Bedeutung je wieder herstellen, wenn dieselbe Sprache auch Mittel zu solchem (eigentlich unvorstellbaren, undenkbaren) Zweck geworden war? Das Geschehene ist sprachlich nicht mehr zu fassen, ganze Sprachfelder – Lösung, Säuberung, Schädling, Arbeit und Konzentration, Viehwaggons und Lampenschirme, Knöpfe und Seife – tragen nun eine Vergangenheit in sich, die sie nicht einfach ablegen können; Paul Celans (lange umstrittener, heute gefestigter) Stellenwert in der deutschsprachigen Lyrik nach 1945 ist unmittelbar mit diesen Fragen verknüpft [8].

Ein Gedicht lässt sich rückwärts lesen oder allein anhand der Anfangsbuchstaben der Strophen, es arbeitet mit Leerstellen und Ellipsen. Das erlaubt auch Humor, Groteske, streitbare Arbeitsverweigerung: Der bereits zitierte Literaturwissenschaftler Meier verweist auf eine gestische Demonstration des US-amerikanischen Literaturtheoretikers Jonathan Culler, der mit Verweis auf sein altes Chemie-Schulbuch anmerkt, dieses sei kaum als Roman (novel), sehr wohl aber – so Meier – als Gedichtband lesbar (vgl. [1]). In den meisten jüngeren Fällen verbietet sich das, bzw. dem Gedicht zudem eine stringent erzählende Haltung, empfiehlt stattdessen die Arbeit mit Brüchen, frontaler oder subtiler, subversiver Irritation und der Neuinterpretation eingeübter Sprachmuster: die Lyrik stellt ständig sich und ihr Material selbst infrage. Dieser Suche zu folgen, bedeutet auch das Risiko, am Ende ohne messbaren Mehrwert Zeit in eine Lektüre investiert zu haben, die vielleicht sogar Frust, Wut, Unverständnis hervorruft.

Zur Gegenwartslyrik wäre noch einiges mehr zu sagen, an dieser Stelle nur der Verweis auf Monika Rincks Essayband „Risiko und Idiotie”, der eine Art Laboruntersuchung der Herausforderungen, vor denen Lyriker:innen sich heute wiederfinden, vornimmt. Sie stellt mit Blick auf die Möglichkeit, heute noch Poesie zu verfassen und Gedichte zu schreiben, fest:

„Vor allem muss mehr Fremdes hinein, mehr Schönes, das von anderen kommt. Das ist die einzige Rettung: Es nicht mehr selber sein. Ja, ja. Es mischen. Es aufgießen und umrühren nund mit tausend Zungen plappern lassen. Und so spät wie irgend möglich Ich sagen. Zögern Sie das Subjekt hinaus! Wer immer Sie sind, kommen Sie mit, wie ein Halbnarr, faselnd und Blumen streuend.” [9]

Rinck identifiziert als Schlüssel zur zeitgenössischen, herausgeforderten, herausfordernden Lyrik „[...] die Bereitschaft, sich nicht den anderen hineinzuversetzen, sondern in das, was für die Ausführenden in diesem Moment das ganz Andere ist – nämlich etwas, das er oder sie selbst noch nicht kennt.” [10]

Einzelnachweise
1 vgl. Christoph Cox: Die Aporie politischer Lyrik. In: Lyrische Agonistik. Lyrikforschung. Neuere Arbeiten zu Theorie und Geschichte der Lyrik. 3. Aufl. Berlin [u.a.]: J.B. Metzler 2023. S. 9-37.
2  Albert Meier: Lyrik: Literaturwissenschaftliche Grundlagen und Analyse-Strategien. In: Litwiss-Online. https://www.litwiss-online.uni-kiel.de/grundkurs/grundkurs-literaturwissenschaft/grundkurs-lyrik/#toggle-id-2 (13.05.24).
3 Hermann Korte: Subjektivität und lyrisches Ich. In: Peter Geist, Friederike Reents, Henrieke Stahl (Hg.): Autor und Subjekt im Gedicht. Positionen, Perspektiven und Praktiken heute. Berlin [u.a.]: J.B. Metzler 2021. S. 197-229.
4 Jakob Minor: Neuhochdeutsche Metrik, 2. Aufl.  Straßburg: Trübner 1902. S. 141-154. Hinweis: Der gesamte Text ist hier frei zugänglich verfügbar: https://archive.org/details/neuhochdeutsche00minogoog/page/150/mode/2up (18.05.2024)
5 Gero von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur. Stuttgart: Kröner 2001. S. 340, 762 ff., 876 f.
6 Björn Hayer (Hg.): Gegenwartslyrik. Entwürfe - Strömungen - Kontexte. Marburg: Büchner 2021. S. 11-14.
7 Theodor W. Adorno: Kulturkritik und Gesellschaft. In: Gesammelte Schriften, Band 10.1: Kulturkritik und Gesellschaft I, „Prismen. Ohne Leitbild“. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977. S. 30.
8 Camilia Miglio: Motette für eine Stimmenarche. Eine Lektüre von “Stimmen”. In: Johann Georg Lughofer (Hg.): Paul Celan. Interpretationen, Kommentare, Didaktisierungen. Wien: Praesens Verlag 2020. Zitiert nach: Uta Degner, Irene Fußl (Hg.): Sprachkunst. Beiträge zur Literaturwissenschaft, Jahrgang LIII/2022, 1. und 2. Halbband. Wien: Verlag der ÖAW 2023. S. 79ff. 
9 Monika Rinck: Risiko und Idiotie. Streitschriften. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch 2017. S. 45f.
10 Ebenda.

Autor:innen
Text: Jonas Galm
Lektorat: Jenifer Becker
Zitation: Jonas Galm: Was ist Lyrik? In: AI-Labkit. https://ai-labkit.de/lernen/?post=was-ist-lyrik

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